Der Künstler Georg Sternbacher –
ein Künder der „modernen“ Gleichgewichtsstörung
Georg Sternbacher war ein „moderner“ Künstler und schuf „moderne“ Kunstwerke!
Diesen lapidaren und banal klingenden Satz können alle unterschreiben, die das künstlerische Werk von Georg Sternbacher kennen. Oberflächlich besehen besagt der Satz lediglich, dass die vielgestaltigen und zahlreichen Werke und Arbeiten aus der Hand des Künstlers aktuell und zeitgemäß sind. Jedoch ist der Satz in einem tieferen Sinne wohl doch nicht so unverbindlich, wie es auf den ersten Blick hin erscheinen mag. Er besagt nämlich auch, dass Georg Sternbacher mit seinem „modernen“ Kunstschaffen den Prozess der „Moderne“, das ist der Prozess unserer Zeit, begleitet hat.
Georg Sternbacher thematisierte in seinen Arbeiten die heutige Verlorenheit und die allgegenwärtige transzendentale Obdachlosigkeit als Risse und als Wunden. Er beklagte den Sinnverlust und den Traditionsschwund. Hellsichtig erfuhr Georg Sternbacher in sich selber und in seiner Umwelt den Zwiespalt der „modernen“ Zeit. In seinem künstlerischen Schaffen bewies er uns nur allzu klar, dass die „moderne“ Welt einen vernünftig-mythologisch-poetischen Gleichgewichtszustand, in dem die heillos auseinanderdriftenden Welten der Wissenschaft, der Kunst und der Moral – das Wahre, Schöne und Gute – noch einmal eine einheitliche und verbindliche Form erhalten, niemals mehr zu erreichen sein wird.
Georg Sternbacher sah und spürte zutiefst, dass die Welt, in der wir seit rund 200 Jahren leben, und die den Namen „die Moderne“ trägt, immer mit ihren eigenen, sich konkurrenzierenden Prinzipien im Streit liegen wird. Weil „die Moderne“ sich allen Herrschaftsansprüchen gegenüber reflexiv und kritisch verhält, wird sie nie mehr in einen Gleichgewichtszustand gebracht werden können. Im Gegenteil: Je länger „die Moderne“ dauert, desto mehr hat sie sich mit den Ungleichgewichten zu beschäftigen, die sie selbst hervorgebracht hat. Georg Sternbacher zeigt in seinen Bildern und Skulpturen unmissverständlich, dass es dem kühl rational rechnenden Geist der naturwissenschaftlich-technischen Vernunft nicht gelungen ist, eine stimmige Welt zu rekonstruieren. Die Analyse und Ausbeutung der Natur hat diese im Gegenteil massiv aus dem Gleichgewicht gebracht.
Georg Sternbacher erkannte auch, dass ein unbedingter Subjektivismus dem solidarischen Zusammenleben der Menschen abträglich ist. Wo sich atomisierte Individuen nur noch rücksichtslos selbst zu verwirklichen trachten, zerfällt jede Gemeinschaft. Es ist aus der Geschichte mittlerweile auch bekannt, dass sich radikalisierte Geschichtsphilosophien, welche sich zum Endziel die Herstellung des irdischen Paradieses gesetzt haben, gerade nicht das humane Miteinander befördern, sondern totalitäre Systeme hervorbringen. Die Geschichte wird zur säkularisierten Theologie, welche Erlösung im Diesseits verspricht und mit allen zur Verfügung stehenden Unterdrückungsmitteln die Menschen zwangserlösen will.
Für Georg Sternbacher stand auch fest, dass der Mensch im politischen und kognitiven Bereich keine neuen Mythologien mehr braucht, weil sie, wenn sie den Raum des Ästhetischen verlassen, den Menschen wieder in die Schicksalsabhängigkeit von unumstößlichen Wahrheiten treiben und in ein starres Normen- und Wertesystem zwängen. Viele der bewegendsten Bilder von Georg Sternbacher verpflichten das noch unabgeschlossene Projekt „Moderne“ geradezu, sich auch seinen eigenen Herrschaftsansprüchen gegenüber kritisch zu verhalten. Das heißt, dass „die Moderne“ das Prinzip Reflexion auf sich selbst anzuwenden und die unbedachten Folgen einer rücksichtslosen Modernisierung zu bedenken hat.
Das Werk von Georg Sternbacher scheint die „moderne“ Welt zwingen zu wollen, mit sich auf Selbstkonfrontationskurs zu gehen, um den Selbstlauf verselbständigter, folgenblinder und gefahrentauber Modernisierungsprozesse zu stoppen. In seinem Schaffen nahm der Künstler teil an diesem gleichsam titanischen Kampf, der unser aller Anliegen sein muss. Dabei glich Georg Sternbacher dem unentwegt mit unendlicher Mühe seinen Stein rollenden Sisyphos aus der antiken griechischen Sage. Georg Sternbacher gab trotz öfters wiederkehrender Mutlosigkeit und Niedergeschlagenheit und bei aller nüchternen Einsicht, dass er als einzelner Künstler mit allen seinen Bemühungen diese Aufgabe auch nicht einmal annähernd je wird lösen können, nie auf. Dies obwohl er nur zu gut wusste und zutiefst empfand, dass die Welt nicht mehr paradiesisch werden kann, und die runde und hohle Welt des Mythos zerrissen bleibt.
In seinem künstlerischen Werk setzte Georg Sternbacher gegen eine absolut sich setzende Vernunft all dasjenige, was diese ausblendet: das Ungeschiedene und Undifferenzierte, das Fremde und Heterogene. Mit seinem Rückgriff auf Mythen und Archaisches, mit seinem Versuch, das Prinzip der Subjektivität zu zerreißen, mit seinem Eintauchen in Schichten, die den Bruch der „Moderne“ heilen könnten, mit seiner Feier des religiösen Opfers, der erotischen Verschmelzung, der Orgiastischen, des Rituals, des Tanzes und der vorsprachlichen Kommunikation gedachte Georg Sternbacher in seinen Bildern und Skulpturen all der erlittenen Verluste. Georg Sternbacher entwarf in seinem künstlerischen Schaffen jedoch auch Utopien. Er machte Versöhnungsvorschläge und ließ – mit welchen Mitteln auch immer – eine Welt ohne Gleichgewichtsstörungen zum Vorschein kommen.
In diesem Sinne war und bleibt Georg Sternbacher ein „moderner“ Künstler. Seine von ihm geschaffenen Werke verdienen unsere Anerkennung und unsere Aufmerksamkeit. Sie erinnern uns mit Nachdruck daran, welche Mühen wir noch auf uns zu nehmen haben, damit uns die Hoffnung wider alle Hoffnung auch künftig noch das Leben sichert.
Urs Staub, 1995
Gedenkstätte ehemalige Synagoge Oberdorf
Menora auf verkohltem Holzwürfel, verkohlte Holzplanke auf sechs Bleiplatten, 1993
Dieser Stein ist der Frieden
Wider das Vergessen. Georg Sternbacher hat dies eingraviert in die Bodenplatte seines Mahnmals in der Oberdorfer Synagoge. Das Mahnmal zitiert das jüdische Ritual – der siebenarmige Leuchter, die Menora. Und es stellt die Zeichen der Vernichtung vor Augen – Holzpflöcke und Bretter, geschichtet und gebündelt, halbverkohlt und an den Rändern zerbröselnd: Spuren einer dunklen Erinnerung, und Spuren des Schrecklichen, das von den Opfern nicht mehr bezeugt werden kann. Die Bilder der Ausstellung weisen in die gleiche Richtung, sprechen die gleiche symbolische Sprache.
Wider das Vergessen. Nachdem Georg Sternbacher im April 1995 gestorben ist, hat diese Formel einen zusätzlichen Akzent bekommen. Seine letzten Bilderserien sind Signale eines Abschieds, die sich eingraben sollten ins Gedächtnis derer, die ihn und sein Werk gekannt haben.
Am nächsten war man ihm in dem Haus in Oberriffingen; und da Ute Sternbacher-Bohe kein steriles Museum daraus gemacht hat, gilt das immer noch.
Der erste Eindruck lässt an Adornos Bemerkung denken: „Aufgabe der Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen.“ Chaos ist hier kein Negativbegriff, sondern wird verstanden als Ausdruck der schöpferischen Vielfalt, Ausdruck auch von Kraft und Vitalität. Friedrich Nietzsche schrieb in einem Brief: „In der Nähe soll auch der beste Künstler sich nicht vom Handwerker unterscheiden“, und aggressiv fügte er hinzu: „Ich hasse das Lumpengesindel, das kein Handwerk haben will und den Geist nur als eine Feinschmeckerei gelten lässt.“ Georg Sternbacher war ein Handwerker, der zupackte, der aber auch die eigenen Gesetze seines Materials kannte und respektierte. Und er war ein Macher, nicht im Sinne managerhafter Organisation, sondern ein Selber-Macher, einer, der unermüdlich produzierte, der seine phantasievollen Vorstellungen verwirklichte, um gleich wieder neu zu beginnen – beglückt, aber auch gejagt von der Fülle der Möglichkeiten.
Die Arbeiten von Georg Sternbacher heben die Unterscheidung von unbelebter Materie und organisch Gewachsenem auf. Er verwendete Sand und Metallspäne, Holz und Stein, altes Gerät und alte Drucke, und alles brachte er zum Leben. In der Zeit, als er die Serie der Streifenbilder plante, ging er mit dem Fotoapparat Michelfeld zu und hielt in einer Bilderreihe Ausschnitte aus der Straßenoberfläche fest, die Leitlinie in der Mitte der Straße auch in der Mitte der Bilder, daneben die Strukturen des Asphalts. Die übliche Gegenüberstellung: hier die Produkte der menschlichen Tätigkeit und dort die Natur, sie funktioniert nicht – Natur ist keine Idylle, die dem Menschen gegenübersteht, sie ist in das menschliche Handeln, in die Werke des Menschen eingelagert, und eben darin liegt eine besondere Verantwortung.
Sternbachers Arbeiten sind größtenteils ungegenstandlich – wenigstens bilden sie Gegenstände nicht ab. Aber sie erinnern daran; über Farben und Formen bringen sie Gegenstände, Dinge und auch Probleme zum Sprechen. Manchmal in direkter Anspielung: „Pechvögel“ hieß beispielsweise eine Bilderserie von 1989, als durch das Leck eines Öltankers Tausende von Meeresvögeln und Fischen gequält und vernichtet wurden; die Bilder bewegen sich zwischen den Polen ungestörten, freien Lebens und sinnloser Zerstörung. Oft aber sind die Probleme ganz übersetzt in die Äußerungen der subjektiven Gefühlswelt: Auf die Meldungen vom Golfkrieg, die das schreckliche Inferno als technische Perfektion und strategische Großtat präsentieren, antwortet Sternbacher mit einem bildnerischen Tagebuch, in das seine ohnmächtige Wut eingeht – wilde Formen voller Sprengkraft, Eruptionen, in denen sich die Entstehung und die Zerstörung des Lebens treffen.
Ähnlich eruptiv hat Georg Sternbacher die Serie der hier vorgestellten zwölf großformatigen Bilder gestaltet. Am 17. Januar 1995 beginnt er zu malen; nach vierzehn Tagen, am 1. Februar, schließt er die Serie ab. Voraus gehen andere Serien: Die Notenblätter eines alten Albums werden mit Schriftzügen und Farbzeichen übermalt und teilweise überdeckt; das harmonische Notenbild mit gelegentlichen Tempoangaben wird gewissermaßen aufgerauht und verfremdet. In der Serie der kleinformatigen Streifenbilder kündigt sich die dominierende Struktur der großen Bilder an: Vertikale Streifen auf Seidenpapier beherrschen die Bildmitte, schwungvolle Schriftzüge ziehen eine andere Spur, nur manchmal ein leserliches Wort – der Betrachter bekommt keine Lösung serviert, sondern wird in die Frage hineingezogen: „Warum?“
Aber es wäre falsch, wollte man die schnelle Produktion der großformatigen Serie nur durch diese Vorarbeiten erklären. Man spürt die Leidenschaft, ja die Besessenheit, mit der Georg Sternbacher sein Thema anging. Sein Thema? Auch hier gibt es keinen gegenständlichen Vorwurf; es ist ein Projekt, das die Oberfläche des sichtbar Wirklichen durchstößt. Da sind Anklänge an Reales: schöne architektonische Formen; ein Schriftzug „Block C-E“, der in die eisige Ordnung der Massenlager führt; eine Zahlenreihe – vielleicht der Gedanke an das Abzählen leidvoller Tage in einer ausweglosen Situation. Und in allen Bildern die Balken, gemalte Holzstruktur – nicht die (zu) eingängige Form des Kreuzes, aber auch dies Assoziation an Opfer und Schmerz. Die Bilder führen heran an die Zonen der Grausamkeit, die das scheinbar friedlich-harmlose Leben umgeben, und sie sind ein Appell an Menschlichkeit und Solidarität. Nie wieder! – auch dies steht auf dem Mahnmal in Oberdorf.
Im Winter 1993/1994 malte Georg Sternbacher einige Bilder, die er mit der Widmung „HME“ versah. HME – das sind die Initialen von Hans Magnus Enzensberger. Sein Buch „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ hatte Sternbacher tief beeindruckt. Es ist ein pessimistischer Essay; Enzensberger sieht Bürgerkriege entstehen, in denen „es buchstäblich um nichts geht“ und die deshalb über politische Vernunft nicht anzugehen sind. Im letzten Kapitel erzählt Enzensberger von Sisyphos, der, weil er den Tod und die Götter überlistete, einen schweren Stein immer wieder bergauf rollen musste. Dieser Stein, so schreibt Enzensberger, dieser Stein ist der Frieden.
Sisyphos? Kein Oberriffinger Mythos – Georg Sternbacher war ein Mensch mit Fehlern und Schwächen. Aber die Leidenschaft ließ ihn nicht los, auf seine Weise den Stein immer wieder ein Stück bergauf zu rollen, trotz allen Anflügen von Vergeblichkeit. Er simulierte nicht glatte Harmonie, er stellte sich den dunklen Seiten unserer Welt. Aber in seinen Bildern lebt auch die oft verzweifelte Hoffnung auf Schönheit, Menschlichkeit, Frieden.
Hermann Bausinger, 1995